Die Kunst des Loslassens

Über die Notwendigkeit, Raum für Neues zu schaffen. Und wie wir Mut und Zuversicht erlangen, die damit verbundene Ungewissheit zu ertragen.

Ein Bild kehrt immer wieder, wenn ich über das Loslassen nachdenke: Eine Turnerin am Stufenbarren wechselt nach einer Reihe von Schwüngen und Sprüngen am niedrigeren Holm auf den höheren (1). Dafür muss sie loslassen. Da ist dieser eine, kurze Moment ohne Halt. Es ist nicht gewiss, dass sie die andere Stange zu fassen bekommt. Dennoch gibt es keinen anderen Weg. Die beiden Holme sind meist mehr als zwei Armlängen voneinander entfernt. Sie nimmt das Risiko auf sich, den anderen Holm zu verfehlen und zu stürzen.

Ich weiß nicht, warum mir dieses Bild in den Sinn kommt, war ich doch nie eine besonders gute (wenn auch ambitionierte) Turnerin. Ich kann mich nicht erinnern, ob sie mich jemals an den Stufenbarren gelassen haben, damals im Turnverein. Der Felgumschwung am Reck war schon anspruchsvoll genug für mich.

Aber es soll ja hier nicht ums Turnen gehen. Sondern darum, dass wir in unserem Leben immer wieder gefordert sind, loszulassen, wenn wir Neues erreichen wollen. Oder müssen. Wir wissen nicht, was uns im Neuen erwartet. Wir haben vielleicht Ideen dazu. Konzepte, mit Zahlen und Fakten hinterlegt. Wir wissen aber nicht, ob es tatsächlich besser sein wird als das Bisherige.

Nicht hier und nicht dort

Das Loslassen birgt also große Unsicherheiten und Gefahren. Werde ich das angestrebte Neue überhaupt erreichen? Und: Wie wird es mir dort ergehen? Viele Male habe ich selbst schon erlebt, wie schwierig es ist, Schwung zu nehmen und loszulassen. Dann lieber doch noch hierbleiben, im Vertrauten und Sicheren. Oder Wege finden, wie beides möglich ist: Das Neue und das Alte. Meine bisherigen Erfahrungen damit: Das ist kein dauerhaft aufrecht zu erhaltender Zustand. Sondern anstrengend und unbefriedigend. Das Neue kann sich nicht entfalten. Da ist einfach nicht genug Platz. Letztendlich stand ich dann doch wieder vor der Entscheidung: Kehre ich zum Alten zurück (was oft gar nicht möglich ist) oder lasse ich los und mich ganz aufs Neue ein?

„Wesentlich ist die Besinnung auf die persönlichen Werte und die Überlegung, wie ich diese ins Neue einbringen kann.“

Was aber kann Kraft und Mut geben, das Bisherige loszulassen? Da ist zum einen die schiere Notwendigkeit: Es besteht keine Wahl, da es das Bisherige nicht mehr gibt. Es auch emotional hinter uns zu lassen, braucht Akzeptanz. Und die lässt sich weder verordnen noch erzwingen. Gefühle brauchen Raum, so sehr wir uns gegen Traurigkeit und negative Gedanken wehren. Selbst in Situationen, in denen wir uns sehr auf das Neue freuen, erwischen uns Momente der Traurigkeit über das, was wir dafür hinter uns lassen müssen.

„Weg von“ wird „hin zu“

Psychotherapeut Matthias Wegenroth spricht von drei Schritten, die Akzeptanzprozesse durchlaufen: Im ersten Schritt geht es darum, die Situation wahr- und (vorerst kognitiv) anzunehmen. Dann gilt es, den schwierigen Gefühlen Raum zu geben. Dadurch verändert sich nicht selten, wie wir die Situation beurteilen – und uns selbst. Im dritten Schritt steht der Neuanfang, das Entwickeln neuer Perspektiven. Die Bewegung „weg von“ ändert sich in „hin zu“ und gibt allein schon deshalb Kraft und Mut. Wesentlich ist dabei für Wegenroth die Besinnung auf die persönlichen Werte und die Überlegung, wie ich diese ins Neue einbringen kann. Was ich daran schön finde: Es gibt dann doch etwas aus dem Bisherigen, das ich mitnehme ins Neue.

Oft gehen diese drei Schritte ineinander über. Gibt es schon zugkräftige Ideen für das Neue, kommt wieder die Hoffnung auf, ob nicht doch, wie durch ein Wunder, alles beim Alten bleiben kann. Trotz dieser oft sehr anstrengenden Rückschritte geht es in Richtung Neuem, Schritt für Schritt. Auch zahlreiche Studien belegen, dass Menschen, die eine Situation bewusst zu einem guten Ende bringen, die folgende mit einem guten Gefühl beginnen. Das Risiko des Bereuens sinkt.

Übergänge bewusst gestalten

Rituale können hilfreich sein. Das klingt vielleicht ein wenig esoterisch oder altbacken, je nachdem. Warum aber sind sie uns dann doch wichtig: Silvester, runde Geburtstage, Trauerfeiern für Verstorbene? Vielleicht passen die tradierten Formen nicht für uns. Aber wer schreibt uns vor, zum 50er alle Freund:innen und Verwandten zu einem riesigen Fest einzuladen? Es geht wohl eher darum, eine eigene Form zu finden, eine Dekade abzuschließen und eine neue zu beginnen. Wer sich dafür eine Woche auf eine Alm zurückzieht, ritualisiert ja ebenfalls diesen Übergang.

Und noch etwas vermittelt Mut und Zuversicht – und damit muss ich nun doch noch einmal zur Turnerin am Stufenbarren zurückkommen: Übung. Beginnend mit einfachen Elementen, wie dem Sprung zum Stütz auf den niedrigen Holm, trainiert sie Auge, Motorik und Muskulatur. Unzählige Stunden, in denen sie immer wieder auch stürzt oder das Gefühl hat, nicht mehr besser zu werden. Und sich dennoch Schritt für Schritt dem Flug auf den höheren Holm nähert.

In unserem Leben üben wir das Loslassen ständig. Oft in so alltäglichen Situationen, dass es uns nicht bewusst wird. Allein die Reflexion darüber, was uns schon gelungen ist, ist hilfreich und stärkt für größere Herausforderungen. Und dann finden wir vielleicht heraus, dass da wirklich was dran ist, an diesem alten Spruch: „Wenn sich eine Türe schließt, öffnen sich drei neue.“

(1) Am Stufenbarren turnen nur weibliche Sportlerinnen. Sie sprechen vom Flug, wenn sie diese Übung beschreiben.


Dieser Artikel ist 2024 im Magazin Inovator Nr. 43 erschienen.


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