Wer sind wir?

Nur wenn die Kultur einer Organisation berücksichtigt wird, führen Maßnahmen zu gewünschten Veränderungen. Statt Modetrends zu kopieren, brauchen wir also Klarheit darüber, wer wir sein wollen, aufbauend auf dem Bild davon, wer wir sind.

Wie viele Kaffeebars und hippe Begegnungszonen wurden in den vergangenen Jahren in Unternehmen eingerichtet – und dennoch kaum besucht? Und wie viele haben vor allem nichts an der starken Abteilungsorientierung geändert – obwohl der Bedarf an Offenheit und Austausch so wichtig ist, um den raschen Veränderungen am Markt, im Unternehmen und in der Gesellschaft gerecht zu werden?

Was für die einen passt und rasch ins tägliche Handeln integriert werden kann, verpufft im Alltag der anderen. Das liegt zum einen daran, dass die Lösung schon vor einer Auseinandersetzung mit dem Problem und den eigentlichen Zielen gefunden scheint. Und auch daran, dass wenig klare Bilder darüber bestehen, wer „wir sein wollen“ und „wer wir sind“.

Es geht ans Eingemachte

Wer erfolgreiche Maßnahmen setzen will, um Verhaltensänderungen in der Belegschaft herbeizuführen, muss also tiefer tauchen. Damit geht es ans Eingemachte: die Kultur der Organisation. Ein seit 40 Jahren in Forschung und Praxis bearbeiteter Fokus auf Organisationen. Waren Kulturentwicklungsprozesse ursprünglich inhaltlich, personell und zeitlich recht umfassend, gibt es mittlerweile leichtere, schnellere und fokussiertere Herangehensweisen. Denn Peter Druckers Erkenntnis gilt nach wie vor: „Culture eats strategy for breakfast.“

Doch was ist sie überhaupt, diese Kultur? Folgt man der Wissenschafterin Amy C. Edmondson, dann klingt das recht einfach: Sie ist das gemeinsame Ergebnis von gemeinsamem Lernen. Wenn also eine Organisation neu gegründet wird, entwickelt sie Werte, Überzeugungen und Verhaltensweisen, um erfolgreich an der Erfüllung ihres Unternehmenszwecks zusammenzuarbeiten.

Ist die Organisation damit erfolgreich, werden sie beibehalten, bald nicht weiter hinterfragt und an Neueinsteiger*innen als „unsere“ Art weitergegeben. Im Laufe der Zeit wandern sie aus der bewussten Wahrnehmung, geben Sicherheit und sorgen für die Identität und Stabilität einer Gruppe. Auch dann, wenn die Gründer*innen oder andere Mitgestalter*innen der Gründungsphase selbst nicht mehr im Unternehmen aktiv sind. Sie bilden damit, wie Unternehmenskultur-Pionier Edgar H. Schein das formuliert, die kulturelle DNA einer Organisation. Schein ist überzeugt: Ohne die Gruppe gänzlich zu verändern, kann die kulturelle DNA nicht mehr von Grund auf verändert werden. Und: Alle Veränderungen in einer Organisation haben nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie mit ihrer kulturellen DNA konsistent sind.

Damit ist klar: Wer seine Organisation verändern will oder muss, kommt an einer Auseinandersetzung mit ihrer Kultur und deren zumindest graduellen Veränderung nicht vorbei. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die sich umso herausfordernder gestaltet, je länger die Organisation bereits existiert.


Royal Blue goes White

Edgar H. Schein erzählt in seinem 2017 erschienenen Buch „Organizational Culture and Leadership“ folgende recht eindrückliche Geschichte über eine ungewöhnliche Intervention: Eine britische Transportfirma mit 100-jähriger Tradition war aufgrund ihrer Verluste gefordert, neue Wege zu finden, Transport zu verkaufen. Traditionell waren alle Lastwagen in royalem Blau gefärbt. Nachdem es dem neuen Manager monatelang nicht gelungen war, eine Marktorientierung zu etablieren, gab er eines Tages die Order, alle Lastwagen weiß zu färben. Es hagelte Proteste, Delegationen brachten ihre Argumente vor. Er hörte sich alles in Ruhe an, blieb aber bei seiner Vorgabe. Nachdem die Lastwagen weiß gefärbt waren, bemerkten ihre Fahrer plötzlich, dass Kund*innen neugierig nachfragten, was da geschehen war und was da wohl nun als neues Logo kommen werde. Das brachten die Mitarbeiter*innen dazu, darüber nachzudenken, in welchem Wirtschaftszweig sie tätig waren und was ihre Kund*innen wohl brauchen könnten. Sie begannen, ihre Identität zu hinterfragen.

Handlungsfelder fokussieren

Um der eigenen Kultur auf die Spur zu kommen, ist ein Blick in die Unternehmensgeschichte sinnvoll. Da die Kultur meist sehr stark von ihren Gründer*innen geprägt ist, stellen deren Haltungen und Überzeugungen eine wichtige Grundlage einer Kulturanalyse dar. Diese gehen konkret auf den aktuellen Bedarf im Unternehmen ein. Das braucht vorneweg erste Antworten auf die Fragen: Wer wollen wir sein? Was müssen wir dafür verändern? Hat man die Handlungsfelder erkannt, kann man fokussiert auf das „Wer sind wir?“ eingehen. Ein qualitativer Zugang in Form von Interviews und Workshops kann Antworten darauf liefern, ob die aktuelle Unternehmenskultur die gesetzten Veränderungsziele unterstützen oder behindern wird.

In der gemeinsamen Erforschung von Artefakten, Werten und Grundannahmen entsteht ein gemeinsam getragenes Bild der Unternehmenskultur. Damit können im nächsten Schritt – abgestimmt auf die angestrebten Veränderungen – Unterstützungsfaktoren und Hindernisse identifiziert und konkrete Umsetzungsmaßnahmen festgelegt werden.

Ein weiterer Vorteil dieser Herangehensweise: Werden die Menschen im Unternehmen in die Analyse eingebunden, steigt die Akzeptanz für zu treffende Entscheidungen. Und: In der gemeinsamen Reflexion hat ein Lern- und Erkenntnisprozess stattgefunden. Wichtig ist dabei, gezielt die jeweils richtigen Personen zu integrieren: Führungskräfte und Mitarbeiter*innen unterschiedlicher Ebenen und Bereiche, informelle Meinungsbildner*innen, vor allem aber auch noch relativ neu in die Organisation Eingestiegene. Eine breitere Einbindung kann zudem über einmalige oder ohnehin regelmäßig durchgeführte Umfragen erfolgen.

Gemeinsam lernen

Ist diese wichtige Basis geschaffen, gilt es die Maßnahmen umzusetzen und gemeinsam zu lernen. Dafür wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Methoden entwickelt, die gemeinsame, rasche Entwicklung in Feedbackschleifen ermöglichen, wie Design Thinking, SCRUM oder Lösungsfokussierung. Wie in allen organisationalen Lernprozessen kommt den Führungskräften eine zentrale Rolle zu. Konsistenz von Reden und Handeln sind dabei wesentlich: Nur wenn Führungskräfte das, was sie postulieren, durch ihre alltäglichen Handlungen stützen, werden sie erfolgreich Veränderungen herbeiführen (siehe Artikel Auinger, Jany, Winkler Seite 17). Letztendlich werden nur jene Veränderungen zu nachhaltigen Kulturveränderungen führen, die als erfolgreich erlebt und weitergetragen werden.

Damit wird die Entwicklung der Unternehmenskultur zu einem laufenden Prozess in kürzeren Arbeitsphasen mit jeweils klarem Veränderungsfokus. Eins ist klar: Jede Unternehmenskultur entwickelt sich so oder so weiter – die Frage stellt sich nur, ob man diese Entwicklung mitgestalten will zum Zweck des guten Weiterbestehens. Oder eben nicht.

Wozu also eine Kaffeebar?

Zurück zur hippen Begegnungszone: Was steht also hinter diesem Ansinnen? Geht es darum den Austausch über die Abteilungen hinweg zu fördern? Sollen attraktive Bedingungen für junge Mitarbeiter*innen geschaffen werden? Oder hat man das bei drei anderen Unternehmen gesehen und will das nun auch umsetzen?

Angenommen, es geht um den Austausch über die Abteilungen hinweg (= Wer wollen wir sein?): Wie sieht unsere Kultur dazu aus? Wird das vielleicht ohnehin gelebt – aber in ganz anderer, gut ausbaufähiger Form? Zählt nur die am Arbeitsplatz verbrachte Zeit als produktiv und wertvoll? Fördern unsere Belohnungssysteme individuelles Expert*innenwissen? Die Antworten auf diese und ähnliche Fragen liefern Spuren auf die tatsächlichen Möglichkeiten, den Austausch über die Abteilungen hinweg zu fördern und die Unternehmenskultur hier weiterzuentwickeln.

Das Beitragsbild zeigt die Installation „Migrations“ der französischen Künstlerin Marguerite Humeau bei der heurigen Kunst-Biennale in Venedig. Die drei fluiden, tanzenden Figuren sind nach den Meeresströmungen El Niño, La Niña, Kuroshio benannt. Diese Wesen wollen beschützen, was sie zu verlieren fürchten. Wie Meeresströmungen haben sie große Kraft: Durch ihre Veränderung beeinflussen sie zahlreiche lebende Organismen und die Transformation von Ökosystemen.

Elemente einer lernenden und anpassungsfähigen Unternehmenskultur

Proaktiv an Themen herangehen und Lernchancen wahrnehmen.Gerüstet sein: Kompetenzen, Wissen, Erfahrungen erwerben. „Der Zufall begünstigt den vorbereiteten Geist.“ (Louis Pasteur)Handlungsfelder finden, die man selbst gestalten kann – und seien sie noch so klein.Immer wieder auch auf Abstand gehen zur Organisation und den aktuellen Herausforderungen sowie unterschiedliche Perspektiven darauf einnehmen.Auf den richtigen Zeitpunkt warten.Experimentieren und neue Wege ausprobieren.Entscheidungen treffen, Fehler akzeptieren und als Lernfelder nutzen.Feedback einholen, reflektieren und analysieren.Für unterschiedliche Kulturen sensibilisieren, Diversität fördern und die Leute in die Welt schicken: „Travel more!“ (E.H. Schein)Vertrauen untereinander und auf das Gute im Menschen.Zuversichtlich zukunftsorientiert sein.Systemische Denkweisen fördern.

 

Dieser Artikel ist im Magazin Inovator Nr. 39 (2022) erschienen.

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