Purpose ist gut. Spielraum ebenso!
Die Suche nach dem Sinn des Lebens beschäftigt Menschen schon seit Jahrtausenden. Relativ neu hingegen ist die Sinn-Suche von Unternehmen. Ihr Purpose soll ihnen unter anderem Zugang zu engagierten und möglichst loyalen Mitarbeiter*innen bringen. Ist damit der Schlüssel zum Erfolg gefunden?
Sein „Wofür“ zu kennen, zu kommunizieren und möglichst auch zu leben, gehört für viele Betriebe bereits zum „State of the Art“. Insbesondere im Hinblick auf die Gewinnung und Motivation der meist raren Fach- und Schlüsselkräfte der Generation Z – die gut ausgebildeten, oft sinnorientierten Frauen und Männer zwischen 20 und 30 Jahren.
Die Frage nach dem Daseinszweck ist wohl für Unternehmen ebenso wertvoll wie für Individuen. Wird dieser tatsächlich bestmöglich gelebt, dient er einem gemeinsamen Verständnis und trägt zum Gefühl der Zugehörigkeit bei. Fraglich ist allerdings, ob er allein Menschen tatsächlich langfristig zum engagierten und ambitionierten Einsatz für das Unternehmen motivieren kann. Womit wir erneut vor der alten Frage stehen, was Menschen zum aktiven Tun motiviert. Für den Soziologen Hartmut Rosa ist es die Erwartung von Resonanzerfahrungen, die Menschen antreibt. Neben der Berührung (die auch in Form des gemeinsamen Sinns erfolgen kann), der Verwandlung und der Unverfügbarkeit, stellt für ihn auch die Selbstwirksamkeit ein Element einer Resonanzbeziehung dar.
Diese Selbstwirksamkeit wiederum ist kein neues Konzept. Der Psychologe Albert Bandura hat den Begriff in den 1970er-Jahren geprägt. Er versteht darunter die Überzeugung des Menschen, auch schwierige Situationen aus eigener Kraft erfolgreich zu bewältigen. Es geht also darum, aus sich selbst heraus gestalten zu können, eine innere Gestaltungskraft zu erlangen. Und das wohl nicht nur in herausfordernden Situationen.
Wer sich als selbstwirksam erleben will, braucht die Erfahrung, dass er/ sie etwas bewirken kann. Es braucht selbst gesetzte oder aus innerster Überzeugung mitgetragene Ziele. Und eigenständige Handlungen, diese Ziele zu erreichen. Erich Fromm spricht von „nicht entfremdender Aktivität“ oder „produktivem Tätigsein“, indem sich Menschen als Subjekte ihres Tuns erleben. Und meint: „Der produktive Mensch erweckt alles zum Leben, was er berührt. Er gibt seinen Fähigkeiten Leben und schenkt anderen Menschen und Dingen Leben.“ Was Fromm prosaisch formuliert, ist wohl das, was sich Unternehmen von ihren Mitarbeiter*innen wünschen.
Handlungsspielräume werden enger
Wesentlich ist es also, dass Menschen eigenständig handeln können. Dafür brauchen sie Sinn und Ziele, auf die sie ihr Tun hin ausrichten. Ein „Hin zu“, das die Leidenschaft weckt, zu gestalten, Energie einzubringen und auch schwierige Phasen zu überstehen. Damit allein ist es aber nicht getan. Es geht wohl auch darum, die eigenen Interessen zu leben. Die nötigen Fertigkeiten und Kompetenzen dafür zu haben. Und: Menschen brauchen Handlungsspielräume, in denen sie ihre individuellen Neigungen und Stärken einbringen können.
Hier aber spießt es sich häufig in Unternehmen. Denn gerade die individuellen Handlungsspielräume werden oft deutlich enger. Ein hoher Reporting- Bedarf quer durch alle Bereiche und Funktionen, genau determinierte (Ziel-) Vorgaben oder digitalisierte Prozesse reduzieren die Felder, in denen Menschen in Organisationen ihre Interessen und Stärken leben können.
Oft liegt hinter dem Wunsch nach Kontrolle das Sicherheitsbedürfnis der Entscheider*innen. Kontrolle vermittelt den Eindruck (oder die Illusion?), steuern zu können. Tatsächlich vermindert sie aber oft die Variabilität im Handeln. Was insbesondere in komplexen Strukturen mit hoher Unvorhersehbarkeit, die viele moderne Organisationen nun mal sind, problematisch ist. Erschwerend ist hier auch eine Folge nicht erlebter Selbstwirksamkeit: Menschen kommen dann mit Unsicherheiten deutlich schwieriger zurecht und verfügen über wenig Durchhaltevermögen.
Ein Dilemma. Während die einen auf Rückzug gehen und eigenständiges Denken und Tun einschränken, machen die anderen, was tatsächlich jedem Menschen möglich – aber nicht jedem bewusst – ist: Sie verlassen das Feld und suchen sich ein neues. Sie haben sich wahrscheinlich schon öfter als selbstwirksam erlebt und wissen, dass es immer mindestens eine Alternative gibt. Sie verschaffen sich ihre eigenen Spielräume. Schade für Unternehmen in turbulenten Phasen, wenn genau diese Gestalter*innen gehen.
Menschen abholen und befähigen
Hier sind Führungskräfte gefordert, ihren Mitarbeiter*innen ausreichende Handlungsspielräume zu verschaffen. Es gilt zu hinterfragen, welches Ausmaß an Kontrolle tatsächlich notwendig ist – was meist nur von der Unternehmensspitze abwärts erfolgen kann. Und von wem die erforderlichen Unterlagen dafür bestmöglich erstellt werden. Denn es gibt sie glücklicherweise, die Menschen mit Freude am Erstellen aussagekräftiger Reports.
Zudem sind Führungskräfte gefordert, den Aufgabenbereich ihrer Mitarbeiter*innen möglichst so zu individualisieren, dass diese ihre Interessen und Stärken bestmöglich einbringen können. Das wiederum setzt entsprechende Auseinandersetzung voraus: Wo stehen die Menschen in meinem Team? Wo sind die Kompetenzen, Potenziale und Neigungen? Wie kann ich sie dort abholen und weiter befähigen?
Wesentlich dafür ist es, dass Führungskräfte selbst in ihre eigene Gestaltungskraft gelangen. Dann sind sie in der Lage, Verantwortung zu übernehmen, aufgrund ihrer Reflexionsfähigkeit richtig zu handeln und ihre Teams in die Kraft zu bekommen.
Laut einer 2016 von den Psychologen Nico Rose und Michael F. Steger durchgeführten Studie ist die Zufriedenheit von Mitarbeiter*innen überdurchschnittlich guter Führungskräfte mehr als doppelt so hoch, wie die von schlecht geführten. Ihr Engagement ist um etwa ein Drittel erhöht. Und: Sie zeigen vergleichsweise äußerst geringen Wechselwillen.
Nach Brent Rosso kann nun folgendes Resümee gezogen werden: Wer sich in seiner Tätigkeit selbstwirksam erlebt, den Eindruck hat, einen Beitrag für „das große Ganze“ zu leisten, sich mit den Werten identifizieren kann und das Gefühl hat, seinem eigenen Wesen in der Arbeit näher zu kommen, profitiert von einem erhöhten Arbeitssinn. Da ist er also wieder, der Sinn. Der Unternehmens-Purpose ist ein wichtiger Teil davon. Aber wohl bei weitem nicht ausreichend dafür, dass Menschen in ihre eigene, innere Gestaltungskraft gelangen und diese zur gemeinsamen Umsetzung von Zielen einbringen.
Dieser Artikel ist im Magazin Inovator Nr. 37 (2021) erschienen.