Honeymoon in Ottensheim

Bis zu den Knien steht sie im eiskalten Wasser. Die Gummistiefel dichten schon lange nicht mehr. Sie schöpft unermüdlich. Stundenlang. Ihr Werkzeug: Ein Kübel.

Gemeinsam mit Freunden und Bekannten ist Eva Falb in der Nacht von 3. auf 4. Juni 2013 in die überflutete Backstube Casagrande an die Donaulände von Ottensheim gekommen. Eine Bekannte hatte sie informiert, dass hier viele Helfer benötigt würden. Es gilt, das Wasser auf einer Höhe zu halten, auf der die teuren Geräte nicht zerstört werden. Die Helfer organisieren sich, bilden Menschenketten und teilen Schichten ein. „Da haben wir gesehen, dass man etwas machen muss. Weil Hab und Gut davon schwimmt“, sagt Eva Falb später.

Gegen 4.00 Uhr früh bringt die Feuerwehr eine Tauchpumpe. Es muss nicht mehr geschöpft werden. Der Helfertrupp zieht weiter und sieht, dass viele Ottensheimer stark vom Hochwasser betroffen sind.

Eva Falb und ihre Freunde wollen helfen. Sie starten die „Hochwasserhilfe Ottensheim“. Am Morgen fährt Eva Falb los, organisiert ein Handy und eine Wertkarte. Die Hochwasser-Hotline geht in Betrieb. René Bittricher besorgt ein weißes Zelt, eine Biertischgarnitur und einen Flipchart und stellt alles am Wasserberg auf, dem Ausläufer des Marktplatzes Richtung Donau. Hierher kommen viele, um nach dem Hochwasser zu schauen. Anna Luger-Stoica legt eine Facebook-Seite an. Innerhalb weniger Stunden ist die Drehscheibe für private Hochwasserhilfe installiert.

Rasch und unaufwändig. Und völlig selbstverständlich.

Die Information verbreitet sich schnell. Fast 1000 Menschen liken die Facebook-Seite innerhalb weniger Tage. Regionale Radiosender und Online-Plattformen von Zeitungen verbreiten die Telefonnummer.

Die Menschen haben darauf gewartet, wie es scheint.

Bald läutet das Hochwassertelefon fast durchgehend von 7.30 Uhr früh bis 20.00 Uhr abends. Zahlreiche Menschen aus Ottensheim und der umliegenden Region, aber auch aus anderen Bundesländern bieten ihre Hilfe bei den Aufräumarbeiten an. „Die Leute wollten irgendetwas tun“, sagt Eva Falb. Die Organisatoren notieren Kontaktdaten und Tage, an denen die Anrufer helfen können. Es wird eine lange Liste werden.

Einsatzorte gibt es noch kaum. Nachdem in der Früh der Höchststand erreicht worden war, sinkt das Wasser am Dienstag, dem 4. Juni langsam. Die Donaulände ist noch nicht zugänglich.

Auch an den nächsten Tagen melden sich mehr Helfer als Betroffene. Oft fehlt die Information. Wer gegen das Wasser gekämpft hat und nun zähen Schlamm beseitigen muss, hat kaum Zeit und Muße Radio zu hören, im Internet zu surfen oder über den Marktplatz zu spazieren.

Vielen fällt es schwer, fremde Hilfe anzunehmen. „Ich habe so etwas noch nie erfahren, in dem Ausmaß, war ein wenig unsicher. Ich musste lernen, es anzunehmen“, sagt etwa Isabella Fröschl, Besitzerin von Café und Backhaus Casagrande.

Wie Streetworker gehen Helfer zu den Betroffenen, informieren sie und laden sie ein, sich zu melden, falls sie Hilfe brauchen.

Karin Binder, Besitzerin der überfluteten Hofmühle in der Höflein, bemerkt das weiße Zelt am Marktplatz, als sie zu ihren Eltern geht. Sie sieht das Flipchart mit der Aufschrift: „Brauchst du Hilfe?“. Erst geht sie daran vorbei, doch dann denkt sie: „Ich brauch sicher Hilfe“, und macht kehrt. Eine Helferin nimmt die Binders Daten auf und fragt, wie viele Helfer sie brauche. „Ja, hundert“, sagt Binder. Die Helferin schaut ungläubig. Binder daraufhin: „Das meine ich schon ernst.“ Letztendlich werden insgesamt mehr als 100 Menschen eine Woche lang bei den Binders aufräumen helfen.

In der Tagesheimstätte im alten Amtshaus steht eine Küche zur Verfügung. Darin kochen Lisi Madlmayr und Uli Gruber Schweinebraten. Gasthäuser und Restaurants liefern Essen. Die Hochwasserküche geht in Betrieb.

Die Initiative spricht sich rasch herum. Bald kommen zahlreiche Helfer zum Kochen, Abwaschen und Servieren. Menschen bringen Snacks, Kuchen und Getränke. Helfer und Betroffene bekommen zweimal täglich eine warme Mahlzeit. Wer nicht zum Marktplatz kommen kann, wird mit Essen beliefert. „Das waren Kleinigkeiten, die sehr geholfen haben“, sagt Sandra Haider, deren Haus in der Linzer Straße überflutet worden war.

Die Welle der Hilfsbereitschaft überwältigt die Organisatoren. „Es waren mehr Helfer, als wir einteilen konnten“, sagt Eva Falb. Viele nehmen sich eine Woche lang frei. „Wenn man mit normalem Gewand durch den Ort gegangen ist, hat man sich schon fast geschämt“, erzählt sie.

Manche Helfer müssen abgewiesen werden, weil keine passenden Arbeiten zu vergeben sind. Eine unangenehme Aufgabe. Eva Falb und ihre Freunde schicken nur so viele Helfer an die Einsatzorte, wie tatsächlich benötigt werden. Chaos herrscht ohnehin schon genug im Ort. Viele auswärtige Helfer verweist Eva Falb an das Rote Kreuz in Walding, das die Hilfseinsätze in den stark betroffenen Gemeinden Feldkirchen und Goldwörth koordiniert.

Die Parkplätze werden knapp. Große Freiflächen sind mit Schlamm bedeckt, der Marktplatz muss für große Transportfahrzeuge frei gehalten werden.

Die Organisatoren und Helfer müssen sensibel sein, besonders an heikleren Einsatzorten. „Manche wollen nicht, dass Fremde in ihren Kellern stehen“, sagt Falb. Dorthin schickt sie nur jene Helfer, die vorsichtig und mit Liebe zum Detail ans Aufräumen herangehen.

David Willet ist einer jener vielen Helfer, die von einem überfluteten Haus zum nächsten ziehen und Hand anlegen. Der 22-jährige Deutsche ist seit einem Monat in Ottensheim. Er arbeitet am Bauhof der Gemeinde, um ein großes Vorhaben zu finanzieren: 2,5 Jahre lang will er mit dem Fahrrad Asien und Afrika durchqueren. Danach will er entscheiden, wo er künftig leben wird. Dem Mann mit den blonden Dreadlocks fällt es schwer, sich in vorgegebene Strukturen und Aufgaben einzufügen. Angesichts des Hochwassers denkt er: „Helf ma ein bisserl, taugt ma eh.“ Schließlich „rennt er von einer Arbeit zur nächsten“ und hört nicht auf die Empfehlung, schlafen zu gehen. „Das geht nur, wenn´s keiner anschafft,“ sagt er. Eine Woche lang arbeitet er ganze 24 Stunden durch, schläft dann 4 Stunden, um wieder 24 Stunden zu arbeiten.

Er steht im zähen Schlamm („man steckt so drin, dass man keinen Meter vor oder zurück laufen kann“), arbeitet sich mit der Schaufel durch und trägt ihn in Kübeln aus den Häusern. Er reinigt verschmutzte Gegenstände, sortiert Kaputtes aus. Und erlebt mit, wie sich Menschen von Erinnerungsstücken verabschieden müssen. „Da haben ein paar Leute gekämpft, mit sich selber.“ Er fährt am LKW des Bundesheeres mit und sammelt zerstörte Elektrogeräte ein.

500 Helfer registrieren die Organisatoren der privaten Hochwasserhilfe, weitere 100 Personen arbeiten in der Hochwasserküche mit. Sie verstärken die professionellen Helfer von Feuerwehr und Bundesheer. Zusätzlich zu den beiden örtlichen Feuerwehren Höflein und Ottensheim sind Mannschaften von 18 freiwilligen Feuerwehren vor Ort. Fünf Tage unterstützt der überregionale Feuerlösch- und Bergungsdienst-Zug des Bezirkes Freistadt Süd die Aufräumarbeiten. 27 Bauunternehmer und Landwirte tragen die Schlammberge ab. Insgesamt helfen in dieser Woche rund 1100 Menschen, die Schäden in der 4885-Einwohner-Gemeinde zu beseitigen.

Die Betroffenen sind gefordert, die vielen Helfer zu koordinieren. Franz und Karin Binder beantworten Fragen, verteilen Aufgaben und versuchen, den Überblick zu bewahren. Ein Helfertrupp räumt die Garage aus und fragt nach, bevor kaputte Werkzeuge weggeschmissen werden. „Das war super. Zum Teil haben sie zu viel aufgehoben“, sagt Franz Binder und lacht. Da er selbst keine Zeit dafür hat, entwickeln die Helfer selbstständig ein System, nachdem sie die gereinigten Werkzeuge wieder einräumen. „Da war ich schwerst begeistert.“

Der gesamte Ort befindet sich in Aufbruchsstimmung. „Fast wie bei einem Festival, sagt Eva Falb. Dem wochenlangen Regen folgen strahlend schöne Frühsommertage, die viele Helfer bei der Hochwasserküche ausklingen lassen. „Die Sonne ging unter, der ganze Ort war eine Staubwolke. Alle sind dreckig dagesessen und haben ein Feierabendbier getrunken“, sagt sie über die Abende der anstrengenden Aufräum-Tage.

Ein gemeinsames Hochgefühl, wie es viele Notfallpsychologen nach Katastrophen beobachten. Sie nennen es Honeymoon oder Flitterwochen-Phänomen.

Die neun Frauen und Männer im engeren Organisationsteam der Hochwasserhilfe sind eine Woche lang fast Tag und Nacht im Einsatz. Sie hatten zuvor keine Erfahrung in der Katastrophenhilfe. Dennoch gelingt es ihnen, die professionellen Hilfsorganisationen bestmöglich zu unterstützen und die Welle der Hilfsbereitschaft in sinnvolle Bahnen zu lenken. Einige der Männer und Frauen des engeren Organisationsteams stammen aus dem Umfeld des Open Air Festivals, das seit 20 Jahren von jungen Ottensheimern organisiert wird. Deshalb kennen sie ihre jeweiligen Stärken und können rasch und unbürokratisch zusammenarbeiten. Durch ihre Erfahrung in der Arbeit mit Ehrenamtlichen wissen sie, worauf es ankommt, um die Motivation am Leben zu halten: „Helfern sinnvolle Aufgaben geben, was Gescheites zum Essen und Spaß“, lautet das Rezept von Eva Falb.

Nicht nur Betroffene berührt, wie hilfsbereit die Menschen sind und wie sehr sie zusammenhalten.

Eva Falb und ihre Freunde erhalten Presseanfragen und werden zu Interviews eingeladen. Die Hochwasserhilfe Ottensheim gilt „als Best-Practice-Beispiel, wie das funktionieren kann, wenn Leute ohne Organisation dahinter soviel auf die Reihe kriegen“, fasst Falb die Resonanz zusammen.

 Auch seitens der Gemeinde und der freiwilligen Feuerwehr wird das Engagement, trotz anfänglicher Skepsis da und dort, sehr geschätzt.

Nach sieben Tagen Schlamm schaufeln, putzen und aufräumen sind die allergrößten Schäden beseitigt. Die intensiven Emotionen, die anstrengenden Arbeiten und der Schlafmangel bringen viele Helfer an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Eva Falb sagt: „Es war zu spüren, dass nun wieder Alltag einkehren muss. Es war gut, dass nach einer Woche jeder wieder mal heimgegangen ist und gescheit geschlafen hat.“

Amtsleiterin Renate Gräf hat die Hochwasserhilfe auf Verwaltungsebene koordiniert. Sie erklärt sich die große Solidarität damit, dass jeder mitbetroffen sei. Sei es dadurch, dass Menschen betroffenen Freunden und Bekannten nahestehen, sei es, dass sie nicht heimfahren können, weil die überfluteten Straßen gesperrt sind. „Ein jeder ist in dieser Situation überfordert, weil er nicht weiß, wie es weiter geht, was noch alles kommt. Und damit ich mich beruhigen kann, damit ich etwas beitragen kann, helfe ich. Einerseits für die Betroffenen, andererseits für mich selber“, meint Renate Gräf. Mitzuarbeiten helfe jedem, so ein Ereignis zu verarbeiten.

Ein halbes Jahr später wechseln Menschen, die einander beim gemeinsamen Schöpfen und Schaufeln oder beim Rasten in der Hochwasserküche kennen gelernt haben, nun ein paar Worte, wenn sie sich auf der Straße treffen. Da und dort sind neue Freundschaften entstanden. Renate Gräf stellt fest, dass Einige nun in Lokale gehen, die sie vorher nicht besucht hatten, aus Solidarität und Verbundenheit mit den vom Hochwasser geschädigten Besitzern. Das starke Gemeinschaftsgefühl, das sich über den Ort gelegt hatte, sei abgeflaut, sagen Betroffene und Helfer.

Jeder Honeymoon geht eines Tages zu Ende. Der Alltag kehrt wieder ein.

In Isabella Fröschls überfluteter Backstube hatte sich die private Hochwasserhilfe formiert. „Was passiert ist, bei uns im Ort und in den betroffenen Regionen, ist so etwas von einzigartig, das ist kaum wiederholbar. Auch vom Gefühl her nicht“, sagt sie.

 

Hochwasser Ottensheim: Ein Tagebuch in Bildern

 

Dieser Text ist Teil einer multimedialen Reportage zur Dokumentation der Ereignisse um das Hochwasser in Ottensheim im Juni 2013.

In dieser mit Filmen und Grafiken angereicherten Reportage vollzieht Jany anhand einzelner Betroffener und Helfer exemplarisch nach, wie diese die Ereignisse erlebt haben.

Pegel 1173" schildert die Entwicklung des Hochwassers beginnend von den ersten Warnungen über den unerwarteten Höchststand in der Nacht von 3. auf 4. Juni 2013 bis hin zum Rückgang des Wassers.

"Von der unvorstellbaren Kraft des Wassers“ veranschaulicht den Kampf um die Sicherung des Dammes vor der Siedlung Schlosswiese mit mitten in der Nacht aus dem Mühlviertel gelieferten Granitblöcken, die Anwohnern und Helfern dramatische Stunden bereitet hatte.

Honeymoon in Ottensheim“ erinnert an die große Solidarität und Hilfe und geht der Frage nach, ob der Zusammenhalt im Ort langfristig angehalten hat.

Auf der Homepage fanden sich zudem zahlreiche vertiefende Informationen, Fotos und Filme sowie ein kurzer Abriss über die Hochwassergeschichte von Ottensheim.

Wesentliches Element war der Serviceteil. Bewohner:innen hochwassergefährdeter Gebiete fanden dort zahlreiche Tipps und Empfehlungen zur Vermeidung von Schäden bei zukünftigen Hochwässern: vom Zivilschutz-SMS über Maßnahmen zur Vermeidung der Kellerüberflutung durch Rückstau aus dem Kanal bis hin zu baulichen Maßnahmen überflutungsgefährdeter Gebäude. Ergänzt wurde diese um eine Liste von Telefonnummern und Informationsquellen im Hochwasserfall.

Die Reportage wurde im Juni 2014 auf hochwasser.ottensheim.at veröffentlicht, ist aufgrund von Virenangriffen aber nicht mehr online.

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Von der unvorstellbaren Kraft des Wassers